„1848 war die Nation die Leitidee“

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„1848 war die Nation die Leitidee“

VORTRAG – Historiker Professor Dr. Hettling klärt in Butzbach Frage, wie europäisch das Revolutionsjahr war

BUTZBACH(dt). Um es gleich vorweg zu nehmen, sein Urteil fiel am Ende unmissverständlich, klar und dezidiert aus: „Es macht wenig Sinn, von einer europäischen Revolution 1848 zu sprechen. Und auch die einfache Addition von unterschiedlichen Geschehensabläufen und -dynamiken, die sich in vielen Darstellungen findet, erscheint mir nicht weiterführend für die Frage nach dem europäischen Charakter von 1848.“ Historiker Dr. Manfred Hettling lehnte in seinem Fazit zum Ende seines einstündigen Vortrags am Mittwochabend in der Industriehalle des Museums das retrospektive „Aneinanderreihen von nationalen Einheiten und Geschichten“ als nicht zielführend ab, um auf diese Weise historische Zusammenhänge hin zu einen gemeinsamen Europagedanken zu konstruieren.  

Der 1956 in Ulm geborene Hettling hatte zunächst Mathematik studiert, sich aber dann später auf die Fachbereiche Geschichte, Germanistik, Sozialwissenschaft und Sprecherziehung konzentriert. Nach der Promotion 1989 folgte 1997 die Habilitation in Bielefeld, ehe er ab 2001 als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an die Universität Halle kam, wo er heute lehrt. 

In seinem Vortrag wandte sich der Referent zunächst dem Mythos Europa zu. Der Name komme aus der griechischen Mythologie. Europa sei die Tochter des phönizischen Königs Agenor und seiner Gattin Telephassa gewesen, in die sich Göttervater Zeus verliebt habe. Dieser habe sich – wegen seiner eifersüchtigen Gattin Hera – in einen Stier verwandelt und mit seiner Geliebten ‚Europa’ drei außereheliche Kinder gezeugt, darunter den späteren legendären König Minos von Kreta. Somit sei Europa nichts weiter als ein „Seitensprung“ von Göttervater Zeus.  

Im Anschluss wandte sich Hettling dem „Ereignis 1848“ zu. Manche heutigen Politiker versuchten, die aktuelle europäische Einigung retrospektiv auf dieses oder andere historische Ereignisse zu beziehen, dort eventuelle Wurzeln für ein modernes gemeinsames Europa zu erkennen. Die vielen aktuellen offenen Fragen rund um die Zukunft der europäischen Union begünstige den Blick zurück. Das, was in Zukunft politisch werden solle, erhoffe man schon in der Vergangenheit zu finden. Dies sei ein wesentliches Motiv dafür, dass immer mehr Versuche unternommen würden, die Geschichte des europäischen Kontinents als eine gemeinsame – quasi „europäische“ – Geschichte dazustellen. Dem trat Hettling entschieden entgegen, eine solche „retrospektive Projektion“ sei nur „eine Illusion“. Dazu merkte er an, dass die „Befriedigung aktueller politischer Bedürfnisse“ keinesfalls eine Aufgabe der Geschichtsforschung sei. Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch habe es einmal – in seinem Roman „Mein Name sei Gantenbein“ – so formuliert: Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht. Jetzt sucht er eine Geschichte dazu.  So sei beispielsweise in den Reden des Hambacher Festes von 1832 ein „Loblied auf die nationale Einheit“ gesungen worden. In keiner der vorliegenden Reden sei irgendwie die Vision einer politischen Einigung Europas erkennbar. 1848 habe die „Nation als Leitidee“ zum Ziel gehabt, wobei es beispielsweise einen klaren und scharfen Tenor der Ablehnung gegenüber Frankreich gegeben habe. Zwar seien unterschiedliche Protestaktionen auch in anderen Staaten zu verzeichnen gewesen, doch es sei eine falsche Deutung, darin einen ersten Schritt hin zu einer politischen europäischen Einigung zu sehen. 

Politische Reformen seien sichtbar geworden in England, Skandinavien und der Schweiz, in Frankreich sei eine soziale Polarisierung erkennbar gewesen und in Osteuropa habe es Strömungen nach nationaler Unabhängigkeit gegeben. Ein „europäisches Revolutionsmuster“ sei jedoch nicht vorhanden, Europa sei zu jener Zeit „kein Bezugsraum gemeinsamen Handelns“ gewesen. Hettling stellte fest:  „Im Konzert der Mächte gab es keine gemeinsame europäische Melodie.“ Grundlegende Ordnungseinheit sei die Nation gewesen ohne irgendwelche „Anzeichen eines übernationalen Handelns“. 

Nach dem Vortrag ergab sich eine längere Diskussion mit den Zuhörern, wobei der Referent auch die in vielen Ländern nahezu gleichzeitig stattgefundene Industrielle Revolution klar von einer politischen Einigung getrennt wissen wollte. Allenfalls und vorsichtig könne man – historisch gesehen – in Ansätzen von einer frühen „kulturellen Imagination“ von Europa sprechen. Als Protagonisten, die „Anregungen“ dazu gegeben hätten, seien vornehmlich Künstler zu sehen, die ins Exil gegangen seien und damit Grenzen überwunden hätten wie etwa Heinrich Heine, Stefan Zweig oder Frédéric Chopin. Strikt wandte sich der Referent abschließend gegen heute oftmals zu erkennende Ansätze der Politik, „politische Legitimation auf der Grundlage angeblicher historischer Bezüge“ herzustellen. 

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