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Auf dem Todesmarsch befreit

BUTZBACH. Als Überlebende des Holocaust in den KZs Auschwitz-Birkenau und Buchenwald berichtete Éva Fahidi – heute Èva Pusztai-Belané – am Samstag vor 180 Zuhörern im Butzbacher Museum über ihre Erlebnisse.Text + Foto: dt

ZEITZEUGIN – Éva Pusztai-Belané berichtet von KZ-Haft, Zwangsarbeit und Leidenschaft für das Ballett

BUTZBACH (dt). Es mussten Stehplätze vergeben werden. In der am Samstagnachmittag mit 180 Besuchern restlos überfüllten Industriehalle des Museums war Éva Pusztai-Belané zum dritten Mal seit 2008 in Butzbach zu Gast. Die heute 94-jährige ungarische KZ-Überlebende erzählte aus ihrem Leben und präsentierte ihr erfolgreiches Tanz-Filmprojekt „Die Euphorie des Seins“. Warum? – Was habe ich getan? Diese Frage stellte sich die junge, 18-jährige Éva Fahidi, als sie – nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Ungarn 1944 – nur noch mit dem aufgenähten gelben Judenstern auf die Straße gehen durfte. 

Atemlos lauschten die Zuhörer – teils auch auf den Treppen und dem Boden sitzend – der Stimme der 94-Jährigen, die am 22. Oktober 1925 in Debrecen/Ungarn als Tochter des Holzhändlers Desiderius Fahidi und seiner Ehefrau Irma Fahidi zur Welt kam. „Ich bin gerne in Butzbach. Butzbach ist eine wunderschöne Stadt“, begann sie ihren Bericht, in dem sie auch manchmal nicht auf einen kleinen humorvollen Schlenker verzichtete. 

Schon 1936 konvertierte die Familie zum Katholizismus. Éva wuchs in einem behüteten, geschützten Elternhaus auf und besuchte mit ihrer Schwester eine Klosterschule, wo sie von Nonnen unterrichtet wurde. Unvorbereitet, wie ein Schock, wirkte auf Éva der Überfall deutscher Truppen 1944 auf Ungarn. Ganz entschieden und sehr kritisch wies sie dabei auch auf „die Verantwortung des ungarischen Staates damals und heute“ hin. Schon 1920 sei in Ungarn ein erstes antijüdisches Gesetz erlassen worden. „Es gab in Ungarn schon 1938, 1939 und 1941 Vorbereitungen auf die Shoa“, betonte
Pusztai-Belané als Zeitzeugin. Die jüdische Bevölkerung sei schrittweise aus der Gesellschaft ausgeschlossen worden, sei rechtlos geworden, bereits bevor deutsche Truppen kamen. Später nach dem Krieg habe es in Ungarn – im Gegensatz zu Deutschland – bis heute keinerlei Aufarbeitung der NS-Verbrechen gegeben, die dort begangen worden seien.  

Die Familie musste 1944 ihr Wohnhaus verlassen und sei mit zehn Personen in einem kleinen Raum im Ghetto einquartiert worden. Ende Juni 1944 wurde die Familie mit der übrigen jüdischen Bevölkerung der Stadt in einer Ziegelfabrik zusammengetrieben und schließlich in Viehwaggons nach Auschwitz-Birkenau transportiert, wo Éva ihre Eltern und Geschwister zum letzten Male lebend sah. „Die Dinge verloren da ihren Wert, nur die Menschen waren wichtig“, stellt sie heute im Rückblick fest. Mit anderen gleichaltrigen Mädchen hätte sie innerlich weiter gehofft auf eine bessere Zukunft, auf ein Leben nach dem Lager, der Rückkehr in die Heimat. Um zu überleben – das habe sie früh erkannt – habe sie sich bei den Appellen und Selektionen unbekleidet als arbeitsfähig „präsentiert“. 

Danach sei sie Mitte August 1944 zur Zwangsarbeit in das Außenlager des KZs Buchenwald in Münchmühlen bei Stadtallendorf gebracht worden, wo junge Frauen als sogenannte „Ableger“ bei der Granatenherstellung arbeiten mussten. Im März 1945 wurde Éva auf einem der sogenannten „Todesmärsche“ bei Ziegenhain von amerikanischen Truppen befreit. 

Zurückgekehrt nach Ungarn konnte sie ihr Elternhaus nicht mehr betreten, da dieses vom nunmehr „sozialistischen“ ungarischen Staat konfisziert worden sei. Sie habe drei Jahre lang bei einem Onkel gewohnt, ohne dass sie zu irgendeiner lebendigen Aktivität in der Lage gewesen sei. 1990 sei sie vom Magistrat Stadtallendorfs zu einem Treffen der ehemaligen Zwangsarbeiter nach Deutschland eingeladen worden, bei dem man sie – zu ihrer völligen Überraschung – wie alte Freunde mit Blumen empfangen habe. Heute ist Éva Pusztai-Belané Ehrenbürgerin von Stadtallendorf, wo mittlerweile im dortigen Stadtmuseum ein Dokumentations- und Informationszentrum aufgebaut wurde. Erst 2003 habe sie sich entschlossen, anderen Menschen aus ihrem Leben zu erzählen.  

Pusztai-Belané gab einen tiefen Einblick in ihre Leidenschaft für den Ballett-Tanz. Obwohl sie keinerlei Ballett-Ausbildung hat, konzipierte sie in ihrem hohen Alter gemeinsam mit der professionellen Ballett-Tänzerin Emese in zweijähriger Arbeit das Tanzprojekt „Strandflieder“. Das nun in Butzbach – und damit erstmals in Deutschland – gezeigte, mehrfach preisgekrönte Filmdokument („Die Euphorie des Seins“) führt zu den Lebensstationen der 94-Jährigen zurück und zeigt die Arbeit an dem Tanzprojekt. Es sei ihr ein „Herzensanliegen“, diesen Film den Butzbachern zu zeigen.

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