Landgrafenehepaar flüchtete vor der Pest von Butzbach nach Hoch-Weisel

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Landgrafenehepaar flüchtete vor der Pest von Butzbach nach Hoch-Weisel

BUTZBACH/HOCH-WEISEL. Das „Schloss Philippseck“ über dem Dorf Münster ließ Landgraf Philipp III. als Flucht- und Pestburg erbauen (Zeichnung von Valentin Wagner, 1633). Foto: Bidmon

Ein Beitrag von Günter Bidmon

BUTZBACH/HOCH-WEISEL. In Zeiten der Corona-Epidemie sei an die Pest von 1611 erinnert, die vor 410 Jahren in Butzbach wütete und sogar das Landgrafenehepaar aus der verseuchten Stadt „hinaus aufs Land“  ins benachbarte Hoch-Weisel trieb.

Landgraf Philipp III. hatte im Sommer 1610 in Darmstadt Anna Margaretha, die Gräfin von Diepholz und Bronckhorst, geheiratet. Kaum hatte sich das junge Paar in der neuen Residenzstadt Butzbach im renovierten Landgrafenschloss, das nach dem schrecklichen Stadtbrand von 1603 erst wieder aufgebaut werden musste, notdürftig  eingerichtet, als das Paar die neue Residenz schon wieder verlassen musste.

In einer Biographie über die junge Landgräfin lesen wir: „Im Sommer 1611, also ein Jahr nach der Hochzeit, brach in Butzbach die Pest aus. Die schnell um sich greifende Seuche nötigte das junge Paar, aufs Land zu fliehen. Es zog am 17. Juli nach Hoch-Weisel im Amte Butzbach, wohnte dort in einem einzigen Zimmer des Rathauses“).

„Gleichwohl suchte sich das junge Paar dadurch vor Ansteckung zu schützen, dass es dies Zimmer fast ständig mit beißendem Rauch füllen ließ.“

Schutz vor der Pest suchte das junge Paar also im Nachbardorf Hoch-Weisel, wohl im ersten Stock des Rathauses, das im Jahr 1584, also erst 27 Jahre zuvor, erbaut worden war.

Nach jedem Kirchgang konnte das Landgrafenpaar bei der Rückkehr in das Rathaus durch die Nordtür über dem Portal das vierzeilige Gedicht („Epigramm“) in lateinischer Sprache lesen, das dort (noch heute) davon berichtet, dass im Jahr 1584 zweihundert Dorfbewohner an der Pest verstorben waren.

Welch ein „makabrer Trost“  vom Türsturz herab für die „Flüchtlinge“, die doch gerade hier im Rathaus Schutz vor der Pest zu finden hofften! 

Diese Rathaus-Inschrift, an der der „hochgelehrte“ Landgraf  in „normalen Zeiten“ bestimmt seine Freude gehabt hätte, erweckt auch heute noch unsere Bewunderung:

wer hat eine solch „akademische“  Bauinschrift, dazu in lateinischer (!) Sprache,  verfasst und am „Dorfrathaus“ von Hoch-Weisel anbringen lassen?! Jeder Altphilologe ist auch heute noch begeistert von diesem kleinen literarischen Kunstwerk.

Die Inschrift lautet: ANNO  GRATIAE

15             84

POST  LVE  DVCENTVM  QVO  TVRBA  OBDORMIT  ANNVM

JUSTUS  AB  HELUETIIS   HOC  FABRI  FECIT  OPUS

INDE  PROPINQUA  SACRO  SURREXIT  CURIA  TEMPLO

UT  SAPERET  CHRISTI   IURA  LYTRONQ(UE)  SUI

Im richtigen Versmaß  (mit Akzenten versehen) müsste diese Inschrift folgendermaßen gedruckt werden:

Póst, lue dúcentúm  quó túrba óbdormit, ánnum

Jústus  ab Hélvetiís   hóc fabri fécit opús.

Índe propínqua sacró  surréxit cúria témplo,

út saperét Christí   íura  lytrónque suí.

Die wörtliche Übersetzung lautet: „Im Jahre der Gnade/1584.

Nach dem Jahr, in dem eine Menge von Zweihundert [Personen] durch die Pest entschlafen ist, hat Justus aus dem Land der Helvetier dieses Werk eines Holz-Handwerkers ausgeführt. Daher erhebt sich das Rats- und Gerichtshaus, benachbart dem heiligen Gotteshaus („Tempel“), damit jeder sich zu Gemüte führe die Gebote Christi  und seine (eigene) Erlösung.“

Hoch-Weisel war ein kleines Dorf; und doch staunen wir (ganz überrascht) vor der Inschrift, die zu zahlreichen Bemerkungen und Erklärungen philologischer und historischer Art herausfordert.

Datumsangaben wurden um diese Zeit häufig eingeleitet mit der Wendung „Anno Domini“ („ Im Jahre des HERRN“).  Ungewohnt ist daher die Formulierung in Hoch-Weisel: „Anno  Gratiae“ („ Im Jahre  der Gnade“). 

In vielen Städten Europas waren „Pestsäulen“ errichtet worden, mit denen entweder zu Gott gefleht wurde um Beendigung der Pest, oder Dank gesagt werden sollte für „gnädig“ erfolgtes Ende dieser Seuche.

In unserer Inschrift könnte also gemeint sein, dass Gott seine „Gnade“ den Bewohnern geschenkt und die Seuche endlich vom Dorf genommen hat. Denn im Jahr zuvor hat die Pest („lues“ – „Seuche, Pest“) grausam zugeschlagen: Eine „turba“ („Getümmel, Volkshaufen, Schar“) von 200 Personen war an der Pest verstorben. Die „euphemistische“ („beschönigende“)  Wortwahl „obdormit = obdormivit“ („ist entschlafen“) soll wohl den grauenvollen Tod durch die Seuche „huldvoll beschönigen“.

Das Unglück des Vorjahres dürfte für das Dorf katastrophal gewesen sein. Es ließ sich nicht ermitteln, wieviele Einwohner Hoch-Weisel im Jahr 1583 hatte; aber 200 Tote dürften für die Existenz des Dorfes verheerende Folgen gehabt haben. 

(Zur Erinnerung: In Butzbach raffte später im Jahr 1635 die Pest von etwa 2000 Einwohnern laut Kirchenbucheintrag um 1080 Personen dahin; das war etwa die Hälfte der Einwohnerschaft!)

Die erste nachweisbare Einwohnerzahl für Hoch-Weisel ist erst für das Jahr 1834 überliefert:  681 Einwohner. Da dürften die 200 Pesttoten des Jahres 1583 die Einwohnerzahl von Hoch-Weisel erheblich mehr als nur „dezimiert“ haben.

Und doch haben die Hoch-Weiseler schon im Folgejahr diesen herrlichen Fachwerkbau nahezu allein errichtet. Denn obwohl  zum Amt Hoch-Weisel noch die Dörfer Fauerbach, Münster, Bodenrod und Weiperfelden gehörten, musste Hoch-Weisel die Kosten für das gemeinsame Rathaus offensichtlich allein tragen. 

Noch fast 100 Jahre später nämlich sollten „durch Eingreifen der Landesherrschaft in    Marburg“, die vier anderen Dörfer gezwungen werden, ihren Anteil an dem nicht mehr so neuen Rathaus zu bezahlen. Ein vergeblicher Versuch! Hoch-Weisel musste seine „curia“ selbst und allein bezahlen. Nur Fauerbach steuerte (aber erst im Jahr 1668!) 9 Gulden, einen Tisch und einige Stühle zum Rathausbau bei.

„Curia“  war im Antiken Rom das Ratsgebäude des „Senatus Romanus“ (des „Römischen Senates“) auf dem „Forum Romanum“. Das kleine Dörfchen am Taunusrand bedient sich also eines Begriffes, der an die einstige „Weltmacht“, das  „Imperium Romanum“, erinnert.

Auch das nächste Wort, mit dem die Hoch-Weiseler Dorfkirche, eine „gotische Chorturmkirche“, in die Inschrift einbezogen wird, weist den Leser Jahrtausende zurück und ins ferne Heilige Land: „templum“. Sofort denkt man an den „Tempel in Jerusalem“, das Zentrum der Jüdischen Religion und den Ausgangsort des Christentums. – Weltweite Gedanken vor der kleinen Rathaustür in Hoch-Weisel!

Aus der Ferne kam auch der Baumeister („faber“ – „Handwerker“) des Rathauses nach Hoch-Weisel: „aus dem Land der Helvetier“, ein Mann namens „Justus“. Bisher ließ sich über diesen Handwerker aus der Schweiz nichts Genaues erforschen. Hoffentlich ist der Name echt und nicht ein Wortspiel („iustus“ – „gerecht“): denn das zu errichtende Bauwerk („opus“) sollte ja auch ein „Gerichtsgebäude“ werden, das der „Gerechtigkeit“ („Iustitia“) dienen sollte.

Die beiden letzten Zeilen eröffnen etwas über den gewählten Standort des Rathauses: Die „Curia“ steht ganz bewusst in der Nähe des Gotteshauses. Dadurch soll jeder erinnert werden an die „Gebote Christi“ („iura Christi“), aber auch an „seine eigene Erlösung“ („lytron sui“), d.h. daran, dass er „von Christus erlöst worden ist“. Die enge Nachbarschaft zum Gotteshaus ist also nicht nur ein lokaler Zufall, sondern eine religiöse Entscheidung gewesen.

Die größte Überraschung aber liefert die in der letzten Zeile verwendete Vokabel „lytron“: Dies ist ein griechisches Wort mit der Bedeutung „Lösegeld (zum Freikauf aus Gefangenschaft oder Sklaverei)“, und als abstrakter Begriff: „die Erlösung, Befreiung“. Das Wort wird dabei nicht in der möglichen latinisierten Form „lytrum“ benutzt, sondern in der original griechischen Form „lytron“.

Nochmals unsere Frage: Für wen war diese „akademische“ Inschrift am Hoch-Weiseler Rathaus, die wir nach über 400 Jahren immer noch am selben Ort bestaunen können, eigentlich gedacht?  Und wer hat sie verfasst? 

Von 1574 bis 1584 war ein gewisser Konrad Hartmann Pfarrer in Hoch-Weisel. Vielleicht war er der Verfasser, denn die Pfarrer von Hoch-Weisel (und auch Ostheim) galten (auch schon zu katholischen Zeiten, also vor der Reformation) als Männer, die „etwas drauf hatten“.

Kehren wir zurück zur Flucht unseres landgräflichen Paares vor der Pest nach Hoch-Weisel im Jahr 1611. Der Bericht fährt fort:

„Trotzdem wurde die Landgräfin „mit einem pestilenzischen Schaudern hart angegriffen. Aber nach etlich gehaltenen Schweißen [Verf.: „Schweißbad“, Schwitzbad] ist sie durch Gottes Gnade auf das eifrige Gebet der armen Untertanen davon wiederum entledigt worden“.

Im Winter verlor sich die Krankheit, und am 29. Januar 1612 kehrte das fürstliche Ehepaar nach Butzbach zurück, das Anna Margaretha nun nicht wieder verließ.“

War die Flucht des Ehepaares vor der Pest des Jahres 1611  also ohne den erwünschten Erfolg geblieben, so sollte ein späteres Bauprojekt des Landgrafen weit erfolgreicher verlaufen. Landgraf Philipp III beschloss nämlich, über dem Dorf Münster eine „Flucht- und Pestburg“ zu erbauen, die ihm Schutz vor feindlicher Bedrohung im „Dreißigjährigen Krieg“ und zugleich Schutz vor weiteren Pestschrecken bieten sollte.

Von 1625 bis 1628 errichtete er (gleich hinter Hoch-Weisel auf dem „Gehberg“) das ungewöhnliche „Schloss Philippseck“, das ihn und seine zweite Gemahlin, Christina Sophie von Ostfriesland, ab 1630 tatsächlich vor Kriegsschrecken und Pestsiechtum bewahren konnte.

Ein stark befestigtes und prunkvolles, geräumiges und bequemes  Schloss über dem Dorf Münster hatte das kleine und verräucherte Stübchen im Hoch-Weiseler Rathaus von 1611 als „Asylum“ („Asyl, Zufluchtsort“) vor der Pest erfolgreich abgelöst.

BUTZBACH/Hoch-Weisel. Das Rathaus von 1584 und die Kirche in Hoch-Weisel.

Der Beitrag verfällt zur festgelegten VERFALLSZEIT am VERFALLSDATUM.

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