Dr. Lutz Ehnert, Vorsitzender des Landesverbands des Kneipp-Bunds, über die Gesundheitslehre des Pfarrers
BUTZBACH (thg). In Butzbach entsteht eine Kneipp-Infrastruktur. An mehreren Stellen im Stadtgebiet wurden bereits Treffpunkte errichtet, die Angebote der Gesundheitslehre von Pfarrer Sebastian Kneipp (1821 – 1897) zur Verfügung stellen. Der Internist und Landesvorsitzende des Kneipp-Bundes, Dr. Lutz Ehnert, gehört der Konzeptgruppe an und klärt zentrale Fragen zu Kneipp.
Was kann die Kneipp-Medizin heutzutage leisten?
Ehnert: „Die Natur ist die beste Apotheke“, wusste schon Sebastian Kneipp vor mehr als 120 Jahren. Das Behandlungsspektrum der fünf Elemente der Kneipp-Therapie ist immens – neben dem Aspekt der Prävention können viele gesundheitliche Beschwerden auch geheilt oder Schmerzen gelindert werden. Dies bedeutet besonders im Hinblick auf die besorgniserregende Zunahme der sogenannten Zivilisationskrankheiten ein enormes Potenzial. Bei bereits bestehenden Krankheitsbildern sollte aber stets zwingend mit dem behandelnden Arzt Rücksprache gehalten werden. So kann die naturheilkundlich erweiterte Medizin einen Beitrag dazu leisten, das steigende Bedürfnis der Menschen nach sanfter, natürlicher Medizin zu unterstützen, indem sie bei ihren Empfehlungen auch auf naturheilkundliche Maßnahmen zurückgreift und eine ganzheitliche Betrachtung des Menschen vornimmt.
Welche Vorzüge bietet sie gegenüber anderen Methoden?
Ehnert: Das Konzept kann einfach und ohne große Hilfsmittel im Alltag umgesetzt werden – aber in einer wirkungsvollen Weise. Die Kneippsche Lehre ist ganzheitlich, sie ist viel mehr als „nur Wasser“ und orientiert sich am Konzept der Salutogenese (Gesundheit erhaltende Faktoren): Zum Element Bewegung gehören alle Formen der körperlichen Aktivität, die den Bewegungsapparat unterstützen und Herz und Kreislauf, aber auch Stoffwechsel und Nerven harmonisieren. Im Bereich der Ernährung geht es um bedarfsgerechte, vollwertige und möglichst naturbelassene Kost als wichtige Voraussetzung für das Wohlbefinden. Heilkräuter sind wichtige Helfer bei Alltagsbeschwerden und bei der Behandlung von Krankheiten. Sie können dazu beitragen, bestimmte chemische Medikamente, darunter Schlaf- und Beruhigungs-, Verdauungs- oder Schmerzmittel, einzusparen, in ihrer Dosis zu verringern oder sogar zu ersetzen. Die Ordnungstherapie nach Kneipp befasst sich mit den Themen Lebens- und Zeitordnung, Gesundheitserziehung und Psychohygiene.
Wer kann davon profitieren?
Ehnert: Das ist ja das Schöne: Die Kneippschen Gesundheitsangebote sind für alle Menschen gedacht. Bundesweit veranstalten die Kneipp-Vereine Vorträge und Kurse zu den verschiedenen Anwendungsgebieten und den Elementen, sie organisieren Bewegungseinheiten und Entspannungskurse, gehen auf Reisen oder unternehmen Wanderungen und Radtouren in der Natur. Der Kneipp-Bund begleitet und zertifiziert inzwischen 700 Einrichtungen, die die fünf Elemente nach Kneipp in ihren Alltag integrieren, seien es Kitas, Schulen, Senioreneinrichtungen, Betriebe oder Kurbetriebe.
Dauerhafter Stress schwächt das Immunsystem. Wie kann Entspannung gelingen?
Ehnert: Die Kneippsche Lehre vermittelt die für ein gesundes Leben erforderlichen Zusammenhänge zwischen Körper, Geist und Seele. In Kursen aus der Mind-Body-Medizin ist es das Ziel, zu lernen, dass jeder Mensch in der Lage sein kann, aktiv etwas für die eigene Gesundheit zu tun – Selbstwirksamkeit zu erfahren. Stress ist übrigens kein Phänomen unserer Zeit. Kneipp meinte dazu: „Kaum ein Umstand kann schädlicher für die Gesundheit wirken als die Lebensweise unserer Tage: ein fieberhaftes Hasten und Drängen aller im Kampfe um Erwerb und sichere Existenz.“
Die Konzepte von Kneipp gelten als Meilenstein in der medizinischen Geschichte. Warum?
Ehnert: Kneipp sagte vor rund 150 Jahren, es sei „(…) kein Wunder, wenn Krankheiten so viele Opfer fordern, denn die Menschheit ist weit von der früheren, einfachen, natürlichen Lebensweise abgewichen … Es muss das Gleichgewicht hergestellt werden zwischen der Arbeit und der Lebensweise.“ Die Notwendigkeit und Aktualität von Kneipps Forderungen sind heute – leider – aktueller denn je. Neue Lebens- und Arbeitsbedingungen prägen das 21. Jahrhundert: Die Globalisierung und der Strukturwandel der Wirtschaft, eine erhöhte Mobilität und Flexibilität im Berufsleben, Jobunsicherheit, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, ständige Erreichbarkeit, ein Verlust der Pausenkultur und eine Entrhythmisierung des Alltags haben ihren Teil zur heutigen Entwicklung einer „gestressten Gesellschaft“ beigetragen. Psychische und chronische, nicht zuletzt auch lebenstilbedingte Erkrankungen nehmen, selbst unter jungen Menschen, alarmierend zu. Daher wird auch die Gesundheitsbildung von Kindern eine immer größere Rolle spielen.