„Politische Urteilskraft ist notwendig“

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„Politische Urteilskraft ist notwendig“

BUTZBACH. Sehr gut besucht mit rund 200 Zuhörern war der Vortrag von Professor Herfried Münkler in der Alten Turnhalle Butzbach zum Thema „Zukunft der Demokratie“. Foto: thg

Professor Herfried Münkler spricht in Butzbach vor 200 Zuhörern über die „Zukunft der Demokratie“

BUTZBACH (thg). Mit der Zukunft der Demokratie befasst sich Professor Herfried Münkler in seinem jüngsten Buch. In Butzbach legte er in der Alten Turnhalle am Montag vor rund 200 Besuchern seine Gedanken dazu dar. Als zentrale These nannte er, dass die Menschen wieder eine politische Urteilskraft entwickeln müssen.  

Der 1951 in Friedberg geborene Münkler ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. In Butzbach war er im Rahmen des „Demokratikums“ zu Gast. Durch den Abend führte als Moderator Thorsten Schäfer-Gümbel, der ehemalige SPD-Landespolitiker, nun Vorstandssprecher der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. Bürgermeister Michael Merle begrüßte die Gäste. Sowohl Münkler als auch Schäfer-Gümbel bescheinigten Butzbach eine positive Entwicklung in den vergangenen Jahren. 

Münkler ging aus von der Kommunalpolitik, in der er in den 80er Jahren selbst aktiv war. Im Lokalen sei der Entscheidungsprozess intensiver zu verfolgen und dichter am Bürger als etwa auf Landes- oder Bundesebene. 

Um die Zukunft der Demokratie zu beschreiben, sei eine Bestandsaufnahme notwendig. Sie stimme ihn nicht besonders zuversichtlich, so Münkler. Sinkende Wahlbeteiligungen, weniger Engagement in Parteien und die häufige Frage „Hat die Politik geliefert?“ wie in einer „Supermarkt“-Mentalität führte er an. Er erinnerte an das John-F.-Kennedy-Zitat, wonach der Bürger nicht fragen sollte, was das Land für ihn tut, sondern was er für sein Land tun kann. 

Bedeutend ist für Münkler die Entwicklung der politischen Urteilskraft. Das erfordere, nicht nur das eigene Interesse zu verfolgen, sondern auch zu betrachten, was es für die Stadt oder das Land in zwei, fünf oder zehn Jahren bedeutet. Bei der Bundestagswahl müsse man „sehr viel mehr Urteilskraft aufbringen, um nicht jenen zum Opfer zu fallen, die mit den Stimmungen des Augenblicks Politik machen“. 

Münkler wies darauf hin, dass die sorgfältige Abwägung Zeit benötige. Die Demokratie sei eine Ordnung, die sich Zeit lässt. Dass im Bundestag drei Lesungen für Gesetzesentwürfe vorgesehen seien, verfolge das Ziel der Optimierung mit beratschlagen und entscheiden. Im Entscheidungsprozess müsse man die Dinge permanent in Frage stellen und sich selbst in Frage stellen lassen. 

Die Demokratie sei nicht nur gefährdet durch ihre expliziten Feinde wie etwa autoritäre Staaten. Sie habe auch innere Feinde, die „so etwas wie die fünfte Kolonne“ autoritärer Staaten seien, sagte der Politologe. Wesentlich bedroht werde sie von der Gleichgültigkeit der Bürger. 

An den Rechtsstaat würden auch „eigentümliche Anforderungen“ gestellt. So etwa von einer „Opposition“, die in Dresden auf die Straße gehe und rufe „Wir sind das Volk“. Münkler urteilt: „Aber was soll das in der Demokratie anderes bedeuten als eine reine Frechheit?“ 

Der Politikwissenschaftler betrachtete Volksabstimmungen unter dem Gesichtspunkt der Stärkung der Demokratie. Als Beispiel nannte er die Schweiz. Dort würden „nicht einfache Fragen“ zur Abstimmung gestellt. Die Vorschläge müssten überzeugend begründet werden. In Berlin habe die Abstimmung über eine Bebauung des Tempelhofer Felds eine „unbedachte Entscheidung“ hervorgebracht, es nicht zu bebauen. So müsse darüber nachgedacht werden, wo es sinnvoll sei, ein Plebiszit einzusetzen. 

„Bürgerpartizipative Ordnungen“ seien immer untergegangen, so Münkler. Denn es sei den Menschen zunehmend lästig geworden, Zeit und Geld und das mögliche Risiko, in der Abstimmung zu unterliegen, einzusetzen. Überlasse man die Entscheidungen Experten, werde das Leben einfacher, so die Haltung. Diese „selbstgewählte Sklaverei“ sei aber die eigentliche Bedrohung der Demokratie. 

In der Diskussion ging Münkler auf Fragen Schäfer-Gümbels und der Zuhörer ein. Soziale Medien würden unter anderem genutzt für eine „unangemessene Emotionalisierung der Politik“. 

Er monierte, dass Kompromisse als „faul“ wahrgenommen und unter moralischen Vorbehalt gestellt würden. „One Issue“-Bewegungen wollten keine Kompromisse erzwingen, wie beispielsweise die „Klimakleber“, sondern sich möglichst „vollumfänglich“ ihrem Ziel nähern. 

Die letzte Generation nehme radikale Positionen ein und reklamiere das „bessere Wissen“ für sich. Dabei sei nicht diese Form der politischen Gesinnungsethik gefragt, sondern eine „Verantwortungsethik“. Statt eine Öko-Diktatur voranzutreiben, sollte sie ihre Themen mehrheitsfähig machen. 

Willy Brandt habe gesagt: „Mehr Demokratie wagen.“ Dass damit ein Wagnis, eine Herausforderung verbunden sei, werde oft unterschlagen. 

Auf der kommunalen Ebene sollten weniger fertige Lösungen präsentiert, sondern Problem offen beschrieben werden, ohne vorher zu wissen, was die Lösung ist. „Ein fruchtbarer Prozess gemeinsamen Erwägens soll in Gang kommen“, so Münkler. 

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